Im Vergleich zu den beiden „großen“ Namen Sydney und Melbourne reicht der Ruf der australischen Hauptstadt Canberra nicht besonders weit. Dies mag daran liegen, dass die Geschichte von Canberra noch weitaus kürzer ist als die vieler anderer australischer Städte, denn Canberra ist eine „Retortenstadt“, die erst vor ungefähr hundert Jahren gegründet wurde.
Auch wenn die Gründung der Stadt äußerst erfolgreich war und die Planung Canberras eine schöne, gut angelegte und vor allem ansprechende Stadt hervorbrachte, haben die Australier es ihrer Hauptstadt irgendwie noch nicht verziehen, dass sie „künstlich“ ist. Canberra gilt in Australien als uninteressante Verwaltungsstadt, in der sich bei frostiger Atmosphäre Unmengen von Politikern tummeln, die ja eigentlich keine andere Aufgabe haben, als sich auf Kosten der Steuerzahler einen schönen Lenz zu machen.
Ja, das Verhältnis der Australier zur Politik ist zwiegespalten – sicher würde niemand den kurzsichtigen Fehler machen, sie wirklich als nutzlos zu bezeichnen , aber so wirklich froh sind die meisten auch nicht damit.
Wahrscheinlich ist es noch ein wenig der Geist der Gründerzeit, in der sich die neuen Bewohner Australiens zwar unsicher, aber auf eine bestimmte Art auch grenzenlos frei gefühlt haben, die diesen Unwillen hervorruft. Australier sehen sich selbst als ein sehr freiheitsliebendes Volk, und sie sind nicht besonders glücklich mit Regeln und Gesetzen, wie sie hier in Canberra aufgestellt werden.
Für das Leben in einer Stadt kann natürlich die Politik nicht der einzige Motor sein, und so gab es im Laufe der kurzen Geschichte verschiedene Initiativen, die den ausgeprägten Monopolcharakter der politischen und verwaltenden Arbeit in Canberra verdrängen sollten. Der Anteil an Beamten an den in der Stadt lebenden Menschen ist überdimensional hoch – nur jede dritte Bewohner der Stadt ist kein Staatsdiener, und diese einseitige Bevölkerungsstruktur ist sicherlich auch der ausschlaggebende Grund für so manchen despektierlichen Scherz, den die Australier auf Kosten ihrer Hauptstadt machen – die Bezeichnung „Beamtengarnison“ ist da nur ein Beispiel von vielen.
Für diesen ist der frostige und bürokratische Ruf der Stadt natürlich Gift, und Canberra kämpft mit allen Mitteln dagegen an, und das mit einigem Erfolg.
Zwar sind noch immer nicht alle Australier davon überzeugt, dass es in Canberra auch anderen Menschen außer Langweilern in grauen Anzügen gibt, aber der Ruf der Stadt im Ausland ist auf jeden Fall immens gestiegen.
Nun wäre es ganz falsch, hier den Eindruck zu erwecken, Canberra hätte nur ein gutes Selbstmarketing zu bieten. Die Verantwortlichen in der Stadt verkaufen den potentiellen Besuchern nichts anders als die Stadt selbst – und die ist, kann man sagen, auf jeden Fall wirklich eine Reise wert.
Canberra wird durchzogen von einer Vielzahl von Parks und Grünflächen, die ihr eine für eine Großstadt ausgesprochen natürliche Atmosphäre verleihen. Im geographischen Zentrum der Stadt liegt ein großer, künstlich angelegter See, der die Stadt in zwei Hälften teilt und mit seinen Ausläufern und seinen umliegenden Parks einen Ruhepol in diesem Zentrum der Macht darstellt.
In der Nähe dieses Sees, nämlich im wirtschaftlichen und politischen Zentrum der Stadt, liegen formelle sechseckige Plätze, von denen aus Straßen sternförmig in alle Teile des Landes gehen. Diese Straßen sind in Canberra promenadenbreit und werden von prächtigen Verwaltungsgebäuden und hohen Statuen gesäumt, die dem Besucher einen starken Eindruck von diesem Zentrum der Macht in Australien geben.
In den Vororten Canberras kann man dann und wann ein freilaufendes Känguru entdecken, das sich aus dem umliegenden „Mini-Staat“ Australian Capital Territory nach Canberra gewagt hat. Das Capital Territory besteht zu mehr als 70 Prozent aus Nationalparks, und diese Parks reichen beinahe bis an die Stadtgrenze Canberras, was faszinierende Naturansichten von der Stadt aus nur einen Katzensprung entfernt macht.
Riesige, für meisten Europäer gar unvorstellbare Wälder erstrecken sich im Umland, welches man von verschiedenen Aussichtspunkten in der Stadt gut erblicken kann. Canberra ist nämlich von allen Großstädten Australiens die Einzige, die nicht am Meer, sondern auf rund 600 Meter hohem Tafelland liegt.
Wer sich eine Weile in Canberra aufhält und sich die Zeit nimmt, die Stadt in Ruhe zu erkunden, wird bald verstehen können, warum man die Hauptstadt Australiens als die gelungenste Retortenstadt der Welt bezeichnet.
Natürlich muss Canberra hinter den beiden Metropolen Sydney und Melbourne in vielen Bereichen zurückstecken – auch wenn man sich bei der Planung große Mühe gab, einen natürlichen Eindruck in der Anordnung der Stadt zu erwecken, kann man da und dort erahnen, dass es eben nur ein „erweckter Eindruck“ ist, den man da betrachtet.
Auch geht Canberra trotz aller monumentalen Gebäude und allen üppigen Prachtbauten ein wenig der natürlich Charme ab – ganz gleich, wie gut die „Retorte“, aus der die Stadt stammt, auch sein mag, mit einem gewachsenen Zentrum kann sie in diesem Bereich nicht mithalten. Über das Nachtleben und die Ausgehkultur in Canberra sind die meisten Besucher zweigeteilter Meinung. Einerseits gibt es eine Vielzahl von Restaurants, Bars, Pubs und Clubs in der Stadt, die eigentlich so ziemlich jeden Geschmack abdecken können sollten. Gerade im Restaurantbetrieb ist Canberra herausragend, vielleicht, weil seine Bewohner diese Art der Gastronomie so besonders schätzen. Man schätzt, dass die Restaurantzahl in Canberra pro Kopf die höchste von ganz Australien ist (und so läuft Canberra zumindest in diesem Teilbereich sogar der „Stadt des Essens“ Melbourne den Rang ab).
Sehenswürdigkeiten gibt es in Canberra auf jeden Fall genug, und auch das Klima ist eigentlich mit seinen ausgeprägt jahreszeitlichen Temperaturen, die aber relativ mild sind, recht einladend. Die künstlich gestaltete Ästhetik der Stadt ist herausragend; sowohl Gebäude, als auch die vielen Parks, die geschickt angelegt wurden, bieten eine Menge Sehenswertes.
Doch trotz dieser Vorzüge ist Canberra noch immer unter Touristen nicht unbedingt erste Wahl; dies ist für die Stadt zwar sicherlich bedauerlich, man kann es aber durchaus zu seinem Vorteil nutzen. Denn in Canberra kann man eine gute Zeit verleben, allen Luxus einer Großstadt (310.000 Einwohner) genießen und muss sich dennoch vor superurbaner Überfüllung nicht besonders fürchten. Canberra kann für jeden Besucher, der sich bereit ist, auf sie einzulassen, und der sich nicht von den üblichen Vorurteilen leiten lassen will, ein wunderbares Reiseziel darstellen.