Wenn man von der Geschichte Australiens spricht, bezieht man sich damit auf den kurzen Zeitraum zwischen der „Entdeckung“ Australiens durch britische Seefahrer und der Gegenwart, in der Australien einen stark wachsenden, wirtschaftlich beachtlichen Staat darstellt, der kulturell relativ nah bei der westlichen postmodernen Kultur anzusiedeln ist.
Dieser Zeitraum, der nicht einmal drei Jahrhunderte umfasst, ist im Vergleich zur übrigen Zeit der Geschichte menschlicher Besiedlung in Australien geradezu lächerlich gering.
Die Ureinwohner Australiens, die Aborigines, in Übersee hauptsächlich durch das von ihnen benutzte „Didjeridu“ bekannt, bewohnen den Kontinent wahrscheinlich schon seit mehr als 40.000 Jahren.
Im Laufe dieser relativ langen Geschichte gab es einige beeindruckende Wendepunkte, von denen der letzte der Beginn der europäischen Besiedlung Australiens war; die Geschichte der Aborigines ist jedoch lang und reichhaltig, und eine fundierte Beschäftigung mit Australien sollte auch ein gewisses Interesse für diese Ureinwohner mit sich bringen.
Die Vorfahren der Aborigines stammen aus Südasien und haben noch vor einem gewaltigen Klimawechsel den damals noch niederschlagsreichen und fruchtbaren Kontinent in Besitz genommen. Aus welchen Gründen diese Besiedlung begann und wie sie vonstatten ging, ist leider unklar; allerdings geht man davon aus, dass Teile der frühen Geschichte der Aborigines in überlieferter Form in ihren Legenden zu finden sind.
Die Bezeichnung „Aborigines“ ist nicht, wie man durch ihren fremdartigen Klang vielleicht vermuten könnte, auf eine Stammesbezeichnung oder einen selbstgewählten Namen dieses Volkes zurückzuführen, sondern stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „von Anfang an“ (ab origine).
Wahrscheinlich waren es zwischen 750.000 und 1,5 Millionen Mitglieder dieses Volkes, die über die südostasische Landbrücke kamen und die ihren Lebensstil auf erstaunliche Art und Weisen den Gegebenheiten des Kontinents anpassten.
Die Aborigines lebten als Jäger und Sammler, als sie nach Australien kamen. Die große kulturelle Veränderung, die in weiten Teilen der Welt durch die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht eingeleitet wurde, blieb bei ihnen aus, wohl auch, weil das unsagbar weite Land für die relativ wenigen menschlichen Bewohner die Notwendigkeit zu einer solchen Entwicklung nicht mit sich brachte. Das soziale System der Aborigines war (und diese Aussage galt eigentlich für den größten Teil dieses Volkes bis zur Ankunft der europäischen Siedler) zwar sehr differenziert, hatte sich jedoch nie über diese Stufe des „Jagens und Sammelns“ hinaus entwickelt.
Die ursprüngliche Lebensweise der Aborigines basierte auf einer recht strengen Unterteilung der Menschen in Stämme, die auf einem bestimmten Gebiet beheimatet waren und sich als „Hüter“ dieses Landes empfanden. Vieles spricht dafür, dass den Aborigines bis zur Ankunft der ersten Europäer nicht nur der Begriff des „Grundbesitzes“ fremd war, sondern auch ein auf kleinere, materielle Gegenstände bezogener Eigentumsbegriff.
Dies mag teilweise durch die bei den Aborigines verbreitete nomadische Lebensweise begründet sein – wer jeden „Besitz“ im Zweifelsfall auch mit sich führen können muss, entwickelt wohl zwangsläufig ein völlig anderes Verhältnis zu seinem Eigentum als ein sesshafter Mensch, der Besitztümer in seinem Haus „anhäufen“ kann.
Trotz der nomadischen Lebensweise waren die einzelnen Sippen der Aborigines teilweise hochspezialisiert. Man muss sich die Ureinwohner Australiens eigentlich viel mehr als die vielschichtig differenzierten Bewohner eines Kontinents vorstellen als ein Volk, in dem es von Stamm zu Stamm einige Unterschiede gibt. Nicht nur, dass diese Sichtweise ein wenig von typisch europäischer Ignoranz zeugt, sie wird auch der Vielfalt der australischen Urvölker in keiner Weise gerecht.
So waren die Unterschiede zwischen den Stämmen auch in vielen Belangen sehr ausgeprägt. Jeder Stamm hatte seinen eigenen Dialekt, wobei man davon ausgehen kann, dass zwei Stämme, deren Gebiete sehr weit auseinander lagen, wohl auch wirkliche Verständigungsschwierigkeiten hatten. Auch die benutzten Werkzeuge und die Legenden und Mythen, welche in den verschiedenen Stämmen zum Kulturgut gehörten, unterschieden sich teilweise drastisch.
Interessant und für eine solche Kultur eher untypisch sind die teilweise sehr ausgeprägten Beziehungen zwischen den Stämmen. Bei den Aborigines gab es Handelsbeziehungen, die über die Deckung lebensnotwendiger Bedürfnisse hinausgingen; auch war der interkulturelle Austausch bei den Ureinwohnern Australiens so ausgeprägt, dass reisende Mitglieder eines Stammes teilweise wohl verschiedene Sprachen beherrschten.
Allerdings umfasste der Handel zwischen den Stämmen zumeist nur eine begrenzte Auswahl von Gütern, wahrscheinlich, weil durch die territoriale Gebundenheit der Stämme viele Dinge, die ein Stamm herstellte, für den anderen gar nicht nützlich sein konnten – was hätte eine Sippe, die im Gebirge beheimatet war, auch mit einem seetüchtigen Boot anfangen sollen?
Aber auch wenn die Aborigines durch die Verteilung ihrer Gebiete eigentlich an bestimmte Regionen gebunden waren, gab es durchaus Gruppen, die auf der Suche nach einem besseren Lebensraum weite Wanderungen unternommen. Dies war wahrscheinlich eine der treibenden Kräfte für den kulturellen Austausch unter den Sippen.
Werkzeuge und Waffen, die von den Aborigines benutzt wurden, waren Keulen, Speere und Äxte, außerdem Wurfstöcke, die wahrscheinlich der Vorläufer des bekannten Bumerangs waren. Angelhaken, Boote und Kanus waren in den Küstenregionen ebenfalls bekannt, was natürlich nahelegt, dass Fischfang für die Bewohner der Küsten durchaus eine Nahrungsquelle war.
Das Gesellschaftssystem der Aborigines basierte, wie bereits gesagt, auf der Stammes- oder Sippengemeinschaft. Jede Sippe fühlte sich einander zugehörig; Sippen wurden in kleinere Gruppen von ungefähr 50 Menschen unterteilt, die man als „Familien“ bezeichnen konnte. Das Stammesgebiet war noch einmal unter den Familien verteilt, und auch wenn dieses System sicherlich auch das ein oder andere Mal Anstoß zu einem Territorialstreit gab, wurden eventuelle Meinungsverschiedenheiten doch meistens friedlich geklärt – die Verbindung, die durch die Sippenbindung bestand war stärker als die meisten Konflikte.
Nicht zuletzt war aber sicherlich auch das relativ strenge Gesetzessystem der Aborigines für viele friedliche Streitschlichtungen verantwortlich. In diesem System war es eine verbreitete Strafe, nach einer Streitigkeit die Angehörigen des Opfers die Strafe vollstrecken zu lassen. Dies konnte bei schweren Vergehen, die vielleicht sogar zum Tod eines Sippenmitglieds geführt haben, durchaus die Tötung eines Delinquenten beinhalten.
Die Entscheidungsgewalt (wenn man von einer solchen Instanz überhaupt sprechen kann) liegt bei einer klassischen Aborigine-Sippe bei den Stammesältesten. Diese bildeten einen Rat, in dem Vertreter beider Geschlechter zu finden waren. Der Ältestenrat war einerseits für die Urteilsfindung bei einem Vergehen zuständig, andererseits übte er durch die Interpretation der Überlieferung noch eine annähernd „gesetzgebende“ Funktion aus. Allerdings bedeutet dies im Rahmen der Aborigine-Gesellschaft nicht, dass auf Anraten oder Einwirken des Rates hin neue Gesetze geschaffen wurden; nur die Auslegung der bestehenden, welches durch Mythos oder religiöse Vorstellungen legitimiert waren, fiel in den Aufgabenbereich des Rates.